ENTFLOHEN

Reich mir deine Hand, flüsterte das Kind. Es schien ein Mädchen zu sein, auch wenn nichts in der zerfetzten Kleidung darauf hinwies. Die zerrauften Haare hingen ihm wirr in die verschmierte Stirne hinein, sodaß die zugekniffenen Augen beinahe völlig verdeckt waren. Ihre Farbe war nicht zu erkennen. Überhaupt war es bereits so dunkel geworden, daß die beiden Gestalten nur mehr schemenhaft zu erkennen waren. Eine Hand wurde emporgestreckt und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zog sie ein kleineres Kind empor aus dem Loch.

 

Es war ein offener Kanaldeckel. Es war vollkommen unerklärlich, wie die beiden Kinder, sie mochten nicht älter als fünf und acht Jahre alt sein, diesen überhaupt hatten in die Höhe heben können. Mahnend legte sie den Finger an die Lippen, als das kleinere Kind, anscheinend ein Knabe, sich mit einem lauten Seufzer mit letzter Kraft emporzog und sogleich völlig erschöpft am Rande des Kanaldeckels zusammenbrach.

 

Das Mädchen schien darauf gewartet zu haben, griff hastig unter ihren zerrissenen Pullover und holte ein feuchtes Stück Brot hervor, das sie ihm gegen die Lippen presste, worauf  sich diese leicht öffneten und begannen die Feuchtigkeit herauszusaugen, bis sich die Krümel aufgelöst hatten.

 

„Geht es wieder?“  hauchte sie ihm ins Ohr, und als dieser stumm nickte, nahm sie ihn unter der Achsel und zog und schleppte ihn leise keuchend hinter eine nahe Baumgruppe.

 

Kaum waren sie hinter den Büschen verschwunden, preschte eine Schar Motorräder an ihnen vorbei. Mit grellem Licht tasteten sie die Gegend ab, beleuchteten die Mulden neben der Straße und verschwanden dann im aufsteigenden Nebel.

 

„Jetzt“, flüsterte das Mädchen, „komm, beeile dich“, sie half dem Knaben aufzustehen und beide huschten geduckt über die Straße, quer über die Wiese dem Wald entgegen, in dem sie schließlich verschwanden. Im Wald war es windstill und die letzten Vögel verstummten langsam. Die Kinder erreichten einen trockenen Waldweg, der sich durch die Baumgruppen schlängelte. Langsam und gleichmäßig gingen sie weiter, bis der Knabe so erschöpft war, daß ihn das Mädchen huckepack nehmen musste. Immer langsamer kam sie nun voran, aber sie ließ nicht nach und ging immer weiter, auch wenn ihre Kraft sichtbar abnahm.

 

So ging sie bis tief in die Nacht hinein. Zwischendurch ließ sie sich zu Boden sinken und nickte ein, das schlafende Kind blieb halb auf sie gelehnt auf ihr liegen, bis die Vögel gegen vier Uhr morgens zu zwitschern begannen und die Kinder aufweckten.